Strafprozeßreform

Die Fraktionen von SPD und Bündnis 90/DIE GRÜNEN im Deutschen Bundestag haben zusammen mit dem Bundesministerium der Justiz am 13.2.2004 einen Diskussionsentwurf für eine Reform des Strafverfahrens vorgelegt. Dies ist für uns Anlass, die Reformüberlegungen in einer Arbeitsgruppe auf dem 28. Strafverteidigertag zu erörtern. Als Referenten nehmen Teil:

Ministerialdirektor Berndt Netzer, Bundesministerium der Justiz (Berlin)
Professor Dr. Bernhard Haffke, Universität Passau
Rechtsanwalt Klaus Ulrich Ventzke (Hamburg);

Moderation: Rechtsanwalt Rolf Grabow (München)

Die Gesetzgebung zum Strafverfahrensrecht war in den letzten Jahrzehnten von meist anlassbezogenen, sich auf Teilbereiche beschränkende Regelungen geprägt. Seitdem die Bundesregierung im Jahr 2003 wiederum Gesetzesvorschläge zur Regelung von Teilbereichen (Opferrechtsreformgesetz und Justizmodernisierungsgesetz) in das Gesetzgebungsverfahren vorgelegt hat, liegt nunmehr erstmals ein Diskussionsentwurf für eine umfassende Reform des Strafverfahrens vor. Im Gesetzentwurf heißt es:

»Der Diskussionsentwurf setzt die mit den Eckpunkten vom April 2001 aufgenommene Diskussion für eine Reform des Strafverfahrens fort und richtet sich als ergebnisoffenes Angebot zur weiteren Diskussion an die Fachöffentlichkeit und alle Interessierten.«

Hervorzuheben sind die vorgesehene Regelungen für eine frühzeitige Einbindung der Verteidigung im Ermittlungsverfahren, für eine Erklärung der Verteidigung zum Anklagesatz (opening statement), der »Transfer« von Vernehmungen, an denen die Verteidigung im Ermittlungsverfahren mitgewirkt hat, in die Hauptverhandlung und die Regelung verfahrensbeendender Absprachen.

Zusammen mit den strafprozessualen Regelungen des Opferrechtsreformgesetzes und den strafprozessualen Regelungen des Justizmodernisierungsgesetzes stehen wir damit einer umfassenden Reform des Strafverfahrens gegenüber. Die Fachöffentlichkeit und alle Interessierten sind aufgerufen, sich an der weiteren Diskussion zu beteiligen.

Hinweis: Den "Diskussionsentwurf für eine Reform des Strafverfahrens" finden Sie auf unserer Homepage unter "Stellungnahmen".

Der Richtervorbehalt im Ermittlungsverfahren - Ergebnisse der AG 3 des 28. Strafverteidigertages 2004 -

Im strafrechtlichen Ermittlungsverfahren stehen den Strafverfolgungsbehörden eine Vielzahl von offenen und heimlichen Untersuchungsmaßnahmen zur Verfügung. Diese richten sich keineswegs nur gegen Beschuldigte. In vielen Fällen, z.B. bei Wohnungsdurchsuchungen, Observationen, Abhörmaßnahmen u.a., sind unweigerlich völlig Unverdächtige und Unbeteiligte betroffen. Diese Maßnahmen greifen tief in die Rechte und Lebensverhältnisse der Betroffenen ein.

Deshalb hat der Gesetzgeber für eine Reihe besonders belastender Eingriffe vorgesehen, dass diese nur auf Anordnung eines Richters durchgeführt werden dürfen. Das Bundesverfassungsgericht hat in den letzten Jahren mit einer Reihe von Entscheidungen diesen Richtervorbehalt gestärkt. Z.B. wurde die bisherige Praxis der Ermittlungsbehörden, Wohnungsdurchsuchungen wegen vermeintlicher Gefahr im Verzug ohne richterliche Anordnung durchzuführen, ganz erheblich eingeschränkt. Das BVerfG hat mehrfach betont, dass der Richter als unabhängiges Kontrollorgan gerade auch die Interessen des Betroffenen berücksichtigen soll, der in der Regel zu der beabsichtigten Maßnahme nicht vorher gehört wird.

Die rechtstatsächlichen Untersuchungen zur Wirksamkeit des Richtervorbehalts bei der Überwachung der Telekommunikation (Backes / Gusy 2003; Albrecht / Dorsch / Krüpe 2003) zeigen aber, dass eine tatsächliche Kontrolle und Begrenzung der Eingriffe auch durch die Ermittlungsrichter nicht stattfindet. Anträge der Staatsanwaltschaft werden nicht selten völlig unkritisch übernommen. Viele Beschlüsse entsprechen nicht einmal den gesetzlichen Mindestanforderungen.

Eine Kontrolle über die Instanz- oder Revisionsgerichte findet bislang nur sehr unzureichend statt. Der Bundesgerichtshof hält die Verwertung von Erkenntnissen aus rechtswidrig angeordneten TÜ-Maßnahmen noch immer nur dann für unzulässig, wenn die Anordnung objektiv willkürlich und deshalb unvertretbar war.

Im Urteil über den großen Lauschangriff vom 03.03.2004 hat das Bundesverfassungsgericht den Richtern eine Reihe von Vorgaben gemacht, die geeignet sind, die tatsächliche Wahrnehmung der richterlichen Kontrollfunktion zu stärken und die grundsätzliche Bedeutung haben:

  • Der Beschluss des Richters muss den Tatvorwurf und die durchzuführende Maßnahme genau darstellen.
  • Die Gründe der Anordnung sind darzustellen und müssen sich auf alle materiellen und prozessualen Voraussetzungen beziehen. Die konkrete Verdachtslage und die Abwägung aller relevanten Umstände der Entscheidung sind aufzuführen.
  • Die betroffene Person wie auch das zu erwartende Ergebnis müssen angegeben werden. Ggf. ist anzuordnen, dass bestimmte Dritte von vornherein von der Maßnahme ausgenommen werden.
  • Das Gericht ist berechtigt, sich über den Verlauf der Maßnahme unterrichten zu lassen und die eigene Entscheidung daraufhin zu korrigieren.
  • Stellt sich heraus, dass die gesetzlichen Voraussetzungen der Maßnahmen nicht (mehr) vorliegen, hat das Gericht den Abbruch der Maßnahme anzuordnen.
  • Rechtswidrig erhobene Daten aus dem Kernbereich privater Lebensgestaltung sind unverzüglich zu löschen. Weder diese Daten selbst noch aus ihnen gewonnene weitere Erkenntnisse dürfen im Strafverfahren verwertet werden.
  • Die Benachrichtigungspflichten sind zu stärken, um den Betroffenen überhaupt die Möglichkeit zu geben, Rechtsmittel gegen die Maßnahmen zu ergreifen.

Der Schutz der Grund- und Prozessrechte von Bürgern, die von staatlichen Ermittlungsmaßnahmen betroffen werden, müssen bei den Entscheidungen der Ermittlungsrichter wesentlich stärker berücksichtigt werden. Neben den Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts können auch Schadenersatzansprüche bei rechtswidrigen Maßnahmen dazu beitragen, dieser Forderung zum Durchbruch zu verhelfen.