Alternativen zur Freiheitsstrafe

36.Strafverteidigertag
16. bis 18. März 2012
Hannover, Leibniz-Universität

Veranstalter:

Baden-Württembergische Strafverteidiger e.V. | Initiative Bayerischer Strafverteidigerinnen und Strafverteidiger e.V. | Vereinigung Berliner Strafverteidiger e.V. | Hamburger Arbeitsgemeinschaft für Strafverteidigerinnen und Strafverteidiger e.V. | Vereinigung Hessischer Strafverteidiger e.V. | Strafrechtsausschuss des Kölner Anwaltverein e.V. Strafverteidigerinnen- und Strafverteidigerverein Mecklenburg-Vorpommern e.V. | Vereinigung Niedersächsischer und Bremer Strafverteidigerinnen und Strafverteidiger e.V. | Strafverteidigervereinigung NRW e.V. | Vereinigung Rheinland-Pfälzischer und Saarländischer Strafverteidigerinnen und Strafverteidiger e.V. | Strafverteidiger Sachsen/Sachsen-Anhalt e.V. | Schleswig-Holsteinische Strafverteidigervereinigung e.V.

Programm

Freitag, 16. März 2012

18.30 Uhr
Eröffnung und Begrüßung
durch den Vorsitzenden der Vereinigung Niedersächsischer und Bremer Strafverteidigerinnen und Strafverteidiger e.V. RA Hans Holtermann

19.00 Uhr
Eröffnungsvortrag
RA PD Dr. Helmut Pollähne, Bremen
»Alternativen zur Freiheitsstrafe«

anschl./ca.  20.30 Uhr Empfang

Sonnabend, 17. März 2012

09.00 - 12.30 Uhr / 14.00 - 17.00 Uhr

Arbeitsgruppen (ausf. Beschreibung)

17.15 Uhr
Historischer Vortrag:
Dr. Heinrich Hannover: »Strafverteidigung im Konflikt mit dem Zeitgeist«

18.00 Uhr
Aktuelles aus Europa
RA Dr. Heiko Ahlbrecht über aktuelle Entwicklungen europäischer (Straf)Rechtsetzung

21.00 Uhr / Altes Rathaus:
Abendveranstaltung
ausgerichtet von der Vereinigung Niedersächsischer und Bremer Strafverteidigerinnen und Strafverteidiger e.V.

Sonntag, 18. März 2012

10.00 Uhr - 12.30 Uhr
Schlussdiskussion
»Das Recht auf Freiheit«
mit: RAin Gabriele Heinecke
RA PD Dr. Helmut Pollähne
Prof. Dr. Henning Radtke
Moderation:
RA Prof. Dr. Michael Nagel

Alternativen zur Freiheitsstrafe

Historisch stellte die Durchsetzung der Freiheitsstrafe einen Fortschritt dar: Sie löste (als Strafe der menschengemachten Republik) die peinlichen Strafen der gottgewollten Monarchie ab und ersetzte die körperliche Züchtigung und Zerstörung des Untertanen durch die Einschränkung der Freiheit von (wenigstens theoretisch) Gleichen unter Gleichen. Dies entsprach dem aufziehenden bürgerlichen Zeitalter. Die Idee der Freiheitsstrafe wirkte als (rechts)theoretischer Überbau zu Dampfmaschine und Stechuhr.

Seitdem hat sich am System der Freiheitsentziehung als vorrangiger Strafe wenig geändert. Während sich um das Strafrecht herum ein umfassender gesellschaftlicher und technologischer Wandel vollzogen hat, bleibt das strafrechtliche Sanktionssystem unerschüttert - und dies nicht nur im Grundsatz, sondern allzu oft auch in seiner ganz konkreten Ausprägung: Viele Haftanstalten sind überfüllt und in einem kläglichen Zustand. Solcher Strafvollzug kann seinem Resozialisierungsauftrag nicht nachkommen. Während in der postindustriellen Gesellschaft viel von Vernetzung, Datenautobahnen und Nanotechnologie die Rede ist, befindet sich der Strafvollzug weiter auf dem Niveau früher Industrialisierung.

Dadurch wird ein Widerspruch deutlich, welcher der Freiheitsstrafe immer schon innewohnte. Denn zwar sollte der Freiheitsentzug die körperliche Züchtigung ersetzen, doch war sie in der Realität immer auch Züchtigung und körperliches Leid. Und während sie einerseits für sich in Anspruch nahm, nur letztes Mittel gegen normabweichende Bürger zu sein, sammelten sich in den Haftanstalten andererseits vor allem die Armen und Gestrandeten. Auch daran hat sich wenig geändert.

2008 befanden sich in der BRD rund 73.000 Personen in Haft. Zwar sind die Zahlen – nach dem sprunghaften Anstieg Mitte der 90er Jahre – wieder leicht rückläufig. Die Verweildauer aber ist gestiegen; die Zahl der nach § 63 StGB in einem psychiatrischen Krankenhaus untergebrachten ist stark angestiegen, diejenige der Sicherungsverwahrten hat sich seit Ende der 90er Jahre verdreifacht; für Verurteilte nach dem Jugendstrafrecht ist mittlerweile auch die Möglichkeit der Sicherungsverwahrung eingeführt worden. Ein Blick auf die Gefängnispopulation zeigt, dass nach wie vor überwiegend jene eingesperrt werden, die aufgrund schlechter Bildung, Armut und Sucht draußen wenig Chancen haben. Ausschluss durch Einschließen ist ein weithin akzeptiertes Instrument politischer und sozialer Steuerung.

Der Strafverteidigertag stellt dieser Entwicklung die Suche nach Alternativen zur Freiheitsstrafe entgegen.

Arbeitsgruppen

AG 1 : Die Bestrafung der Armen / die Verteidigung der Armen

Anhand von Analysen der Gefangenenpopulation wird dargestellt, wessen Freiheit aufgrund welcher Delikte für wie lange entzogen wird und hinterfragt, welche Bedeutung Armut für Kriminalisierung und Kriminalität hat. Verteidigung hat zu beachten, dass insbesondere ausländischen Angeklagten/ Gefangenen eine Vielzahl an Rechtsgarantien und Verteidigungsmöglichkeiten in allen Lebensbereichen abgeschnitten und zusätzlich Armut erzeugt wird. Welche Möglichkeiten der Entkriminalisierung von Armut insbesondere aus Verteidigerperspektive »de lege lata« gibt es, welche kriminalpolitische Möglichkeiten der Entkriminalisierung »de lege ferenda« – auch mit Blick auf das materielle Strafrecht? Wer verteidigt Arme? Werden Arme schlechter verteidigt? Welche Forderungen ergeben sich daraus?

Referent/Innen: RAin Prof. Dr. Christine Graebsch, FH Dortmund; RA Kai Guthke, Frankfurt a. M.; Prof. Dr. Dorothea Rzepka, TU Dresden | Moderation: RAin Gabriele Rittig, Frankfurt a. M.

AG 2 : Nebenklage und Opferschutz

Die zunehmende Ausweitung der Verletztenrechte im Strafprozess zieht notwendig weitgehende Einschränkungen der Verteidigungsrechte mit sich. Die Idee der Waffengleichheit gerät zur Makulatur. Umso größer die Einflussnahme der Verletzten, desto mehr verschiebt sich zugleich das Strafverfahren in seiner Struktur hin zum Parteienprozess. Es sollen die gesetzgeberischen/normativen Eckdaten der Ausweitung skizziert werden.

Referent/innen: Prof. Dr. Stephan Barton, Bielefeld; Prof. Dr. Monika
Frommel, Kiel; RAin Dr. Margarete von Galen, Berlin; Dr. Luise Greuel, Bremen; Prof. Dr. Susanne Walther, Köln | Diskussion: RA Uwe Maeffert, Hamburg; RA Oliver Tolmein, Hamburg | Moderation: RA Carl W. Heydenreich, Bonn; RAin Christine Siegrot, Hamburg

AG 3 : Jenseits von Afrika: Außenpolitische

Ambitionen des deutschen Strafrechts

Seit einigen Jahren ist die erweiterte Möglichkeit der strafrechtlichen Verfolgung von Auslandstaten in Gesetzen der Bundesrepublik Realität.
Ein erstes Verfahren, das in Deutschland wegen Taten nach dem VStGB geführt wird, zahlreiche 129b-Verfahren, Piratenverfahren etc. sind der praktische Beweis für ein gewachsenes Selbstbewusstsein Deutschlands, das nicht nur militärisch, sondern auch strafrechtlich eine größere Rolle in der Welt wahrnehmen will. Ausgerechnet eine Justiz, die seit Jahren mit dem Argument schwindender Ressourcen Beschuldigten- und Verteidigungsrechte einschränkt, soll nun außenpolitische Verpflichtungen erfüllen.
Welche Schwierigkeiten die Kombination aus gesetzlichem Schnellschuss, mangelnder strafpozessualer Ausrichtung auf reine Auslandsverfahren und sprachlichen/kulturellen/politischen Schwierigkeiten des jeweiligen Verfahrens für die Beschuldigten und ihre Verteidigungsrechte mit sich bringt, wird Gegenstand der Arbeitsgruppe sei.
Hat der (außen)politische Strafprozess neue Konjunktur? Institutionalisieren wir eine »Siegerjustiz«? Wie kann die Verteidigung mit dem spezifischen Machtgefälle in diesen Prozessen umgehen? Wir möchten der Diskussion, der Ideensammlung, dem Ausblick in die Zukunft, unseren Fragen und Sorgen, die sich mit diesen Verfahren verbinden, breiten Raum geben. Ein Schwerpunkt der AG soll die Diskussion unter den Teilnehmer/innen sein.

Referentinnen: Dr. Stefanie Bock, Universität Göttingen; RAin Andrea Groß-Bölting, Wuppertal; RAin Gabriele Heinecke, Hamburg; RAin Ricarda Lang, München; Prof. Antje Wiener, Universität Hamburg (angefragt); RAin Natalie von Wistinghausen, Berlin | Moderation: RAin Andrea Groß-Bölting, Wuppertal

AG 4 : Sicherungsverwahrung

Die AG wird sich mit dem bis dahin erwarteten Referentenentwurf des BMJ zur Neuregelung der Sicherungsverwahrung nach den Vorgaben der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts v. 4.5.2011 beschäftigen. Es soll diskutiert werden, ob der Gesetzentwurf die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) und des Bundesverfassungsgerichts angemessen berücksichtigt. In seiner Entscheidung hat der 2. Senat des BVerfG deutlich gemacht, dass der in der Sicherungsverwahrung liegende schwerwiegende Eingriff in das Freiheitsgrundrecht aus Art. 2 Abs. 2 S. 2 GG nur nach Maßgabe strikter Verhältnismäßigkeitsprüfung und unter Wahrung strenger Anforderungen an die zugrundeliegenden Entscheidungen und die Ausgestaltung des Vollzugs der Sicherungsverwahrung zu rechtfertigen ist. Die Sicherungsverwahrung sei nur zu rechtfertigen, wenn der Gesetzgeber bei der Konzeption dem besonderen Charakter des in ihr liegenden Eingriffs hinreichend Rechnung und dafür Sorge trägt, dass über den unabdingbaren Entzug der »äußeren« Freiheit hinaus weitere Belastungen vermieden werden.

In diesem Zusammenhang soll der Verlauf des und die Kritikpunkte am Gesetzgebungsverfahren diskutiert und die Auswirkungen auf die Praxis bei der Anordnung der SV sowohl im Erkenntnisverfahren als auch im Vollzug der Maßregel erörtert werden.

Referent/innen: MDgt Dr. Bernhard Böhm, BMJ/Berlin; Prof. Dr. Jörg Kinzig, Tübingen; RA Sebastian Scharmer, Berlin; RAin Dr. Ines Woynar, Hamburg | Moderation: RA Dr. Holger Nitz, Hannover

AG 5 : Strafbare Strafverteidigung?

Strafverteidigung ist auf den Schutz des Beschuldigten vor Inhaftierung, Anklage und Verurteilung ausgerichtet. Als Beistand des Beschuldigten nimmt sie gegenüber dem staatlichen Strafanspruch notwendig eine kritische, konträre Position ein. Die in den letzten Jahren gegen Strafverteidiger geführten Strafverfahren haben zu einer breiten Verunsicherung geführt. Niemand wird optimal verteidigen können, der sich selbst für angreifbar und verwundbar hält. Wer sich als Verteidiger zurückhält, weil er eigene Strafverfolgung fürchtet, wird abhängig. Eine weitgehend unabhängige Kontrollfunktion vor Gericht ist nur noch eingeschränkt möglich.

Wenn Staatsanwälte anmahnen, dass Beweisanträge, die wegen Prozessverschleppung abgelehnt werden, den Anfangsverdacht einer (versuchten) Strafvereitelung begründen können (Schneider, FS Geppert, 2011, S. 607), dann sollten Strafverteidiger aufstehen und antworten.

Darf der Verteidiger seinem Mandanten bedenkenlos den Rat erteilen, ein Geständnis zu widerrufen? Darf er auf Zeugen einwirken? Wie weit darf er den Beschuldigten bei seiner Einlassung inhaltlich beraten? Wann begibt er sich in die Gefahr einer Strafvereitelung?

Referenten: Uni.-Prof. Dr. Werner Beulke, Passau; RA Prof. Dr. Ferdinand Gillmeister, Freiburg (angefr.); VRiLG Andreas Mosbacher, Berlin; RA Dr. Michael Tsambikakis, Köln | Moderation: RA Dr. Frank Seebode, Köln

AG 6: Die Beteiligung von Laienrichtern am Strafprozess

Sinn und Wert der Beteiligung von Schöffen und Schöffinnen an strafrichterlichen Entscheidungen sind in letzter Zeit verstärkt hinterfragt worden. Der Strafverteidiger Stefan König etwa nennt die Schöffen »eines der großen Rätsel des Strafprozesses«. Während die Psychologie des Berufsrichters seit Jahrzehnten Gegenstand wissenschaftlicher Befassung sei, gebe es kaum Vergleichbares für Schöffen - und das Wenige stamme nicht aus der Feder von Anwälten. Dies liege daran, dass die Verteidiger »wenig Zugang« zu den Laienrichtern hätten. König sieht gerade in der Ausweitung prozessualer Absprachen den Weg in die Abschaffung des Schöffensystems. Die Gegenposition unter den Strafverteidigern vertritt René Börner, der den Schöffen als »Garanten der Unmittelbarkeit und Mündlichkeit der Hauptverhandlung« sieht, dessen Daseinsberechtigung nicht in Zweifel gezogen werden sollte (ZStW 2010, 157, 190).
Der Rechtswissenschaftler Klaus Volk sieht als einziges Argument, »das für die Laienbeteiligung spricht, ... die Tatsache, dass es sie gibt« (FS Dünnebier, S. 374 ff., 389). Nach Meinung von Gunnar Duttge, Strafrechtsprofessor an der Uni Göttingen, ist »keinerlei belastbarer Grund für die Beibehaltung der Schöffengerichtsverfassung zu erkennen« (JR 2006, 358, 363).
Macht die Beteiligung von Schöffen in einer Zeit, in der die Rechtsfindung immer komplizierter wird, noch Sinn? Gehört die Beteiligung von Laienrichtern zu den Umständen, denen der Verteidiger verstärkte Aufmerksamkeit schenken sollte oder sind die Schöffen überflüssiges Beiwerk, das dem Steuerzahler nur unnötige Ausgaben verursacht? Kontrollieren die Schöffen die Berufsrichter oder müssen diese von den »Profis« kontrolliert werden, um »Schlimmeres« zu verhindern? Ist die Beteiligung des Volkes an der Rechtsprechung nur eine romantische Floskel? Was meinen hierzu Richter, vornehmlich Vorsitzende von Strafkammern und Schöffengerichten, aber auch die Laienrichter selbst?

Referent/innen: RA René Börner, Potsdam; Prof. Dr. Gunnar Duttge,
Göttingen; PD Dr. Andreas Glöckner, Max-Planck-Institut für Gemeinschaftsgüter, Bonn; Dr. Eva Kleine-Cosack, Vorsitzende Richterin am Landgericht Freiburg; Hasso Lieber, Staatssekretär a.D., Vorsitzender des Bundes ehrenamtlicher Richterinnen und Richter, Berlin | Moderation: RA Dr. Klaus Malek, Freiburg i.Br.

AG 7 : Gefängnisse - rechtsfreie Räume im Namen des Volkes?!

Aus den Augen, aus dem Sinn: Haben wir die Insassen unserer Gefängnisse abgeschrieben? Wie funktioniert Resozialisierung in der Praxis? Wie funktioniert sie nicht? Wie ist es nach rechtskräftiger Verurteilung noch um »effektiven Rechtsschutz« und »Rechtssicherheit« bestellt?

Die Arbeitsgruppe wird sich mit dem Strafvollzug in Deutschland befassen. Aus ihren jeweiligen Blickwinkeln werden uns die verschiedenen Referenten, die entweder beruflich mit dem Strafvollzug befasst sind oder aber als JVA-Insasse unmittelbar davon betroffen waren, einen Blick hinter die Gefängnismauern auf die Probleme im Vollzugsalltag ermöglichen. Zur Sprache kommen werden hierbei Themen wie Gewalt und Machtmissbrauch in den Gefängnissen ebenso wie die Aspekte der Überbelegung von und fehlenden Personals in Gefängnissen. Daneben sollen aber auch die Probleme im Zusammenhang mit der Verteidigung im Strafvollzug erörtert werden. Ausgehend von einer Bestandsaufnahme werden neben möglichen Verbesserungen im Strafvollzug insbesondere auch Alternativen zur Freiheitsstrafe in der Arbeitsgruppe gemeinsam diskutiert.

Referent/innen: ORR Thomas Galli, JVA Straubing; Rainer Inzenhofer, München; RAin Marianne Kunisch, München; RiOLG Dr. Wolfgang Lesting, Oldenburg | Moderation: RA Markus Meißner, München